„Hier ist der Notruf. Bitte sprechen Sie nach dem Ton.“ – „Ich habe gemordet.“
Am Zurich Film Festival gibt es hie und da ganz unerwartete Momente – zum Beispiel beim einzigen Screening von Tian Zhu Ding, bei dem der Regisseur Jia Zhangke und seine Frau und Hauptdarstellerin Tao Zhao anwesend waren. Obwohl ich aufgrund einer darauffolgenden Vorstellung etwas unter Zeitdruck war, freute ich mich über das einführende Gespräch mit den beiden. Zwei ältere Damen neben mir machten ihrem Ärger über die unangenehme Verzögerung jedoch lautstark Luft: „Wi want tu watsch de muwie nau, gäll Hildi!“ Ich hätte mir in diesem Moment gewünscht, selber eine Figur in Jias Film zu sein – den Grund für Gewaltexzesse hätte ich gehabt.
Der Minenarbeiter Dahai macht seinen Chef auf eine mangelnde Gewinnbeteiligung für die Mitarbeiter aufmerksam und wird dafür von dessen Schergen spitalreif geprügelt. Dass Dahai das nicht auf sich sitzen lässt, ist verständlich. Auch Zhou San greift zur Waffe – um für seine Frau und seinen Sohn aufkommen zu können, raubt er unbescholtene Bürger aus. Auf der Flucht trifft er auf den Liebhaber von Xiao Yu, die an der Rezeption einer Sauna mit Bordellcharakter arbeitet, und dabei nicht nur von der Frau ihres Liebhabers aufgesucht und attackiert, sondern auch von Gästen angebaggert wird. Ebenfalls in diesem Metier ist Xiao Hui tätig – der Junge arbeitet als Portier in einem Edelclub und muss zusehen, wie sich das Mädchen, das er liebt, für reiche Kunden prostituiert.
Ausgehend von vier realen Geschehnissen erzählt Jia Zhangke einen Film über Verzweiflung und Rache. Dabei inszeniert er seinen ersten Spielfilm seit fünf Jahren als Episodenfilm, bei dem das erste, leicht an Park Chan-Wook erinnernde Segment über den Minenarbeiter Dahai, der von Jiang Wu grossartig verkörpert wird, mit Abstand die Stärkste ist. Danach verliert Tian Zhu Ding leider ein bisschen seinen anfänglichen Drive und auch ein bisschen die Orientierung. Trotzdem schafft es der chinesische Regisseur, den Zuschauer mit seinem Film nachdenklich zu stimmen, nicht zuletzt, weil er die Probleme bewusst nicht auflöst. Hat eine Episode ihren Höhepunkt erreicht, wechselt der Film zur Nächsten – die Konsequenzen muss sich der Zuschauer selber ausmalen.
Die Ursachen für die Probleme hingegen legt Jia in seiner sozialkritischen Studie deutlich aus – mit schwarzhumorigem Unterton schiebt er die Schuld den korrupten Geschäftsmännern und der Regierung zu, die den Bürgern keine andere Möglichkeit bieten, als zu Gewalt zu greifen. Diese wird in Tian Zhu Ding dann auch sehr grafisch und tarantinoesk umgesetzt: Schädel werden durchsiebt, Körper aufgeschlitzt und das Blut spritzt in hohem Bogen. Diese Momente gekonnt einzufangen ist die Aufgabe des polnischen Kameramannes Paweł Edelman, der dabei eine gute Arbeit macht und uns zahlreiche schöne Bilder präsentiert. Einziger Wermutstropfen dabei ist, dass er seine Kamera, was Schärfen betrifft, offenbar nicht ganz im Griff hat.

Jia Zhangke ist mit Tian Zhu Ding ein vielschichtiges und nachdenklich stimmendes Episodendrama gelungen, das für zartbesaitete Zuschauer wohl eine Nummer zu deftig daherkommt.